Die sexuelle Revolution: Ein Heike Melzer Interview

heike melzer

Mehr denn je stehen wir einer sexuellen Revolution bevor. Dessen ist sich die Münchner Sexualtherapeutin Heike Melzer sicher, die kürzlich zu diesem Thema das Buch „Scharfstellung: Die neue sexuelle Revolution“ veröffentlichte. Im Interview mit O*Diaries spricht die Expertin darüber, wie Internet, Dating-Apps und Toys unser Sexualleben nachhaltig verändern – und durchaus auch verbessern können.    

Frau Melzer, ganz allgemein: Wie hat sich unser Sexualleben verändert?

Unsere Triebe spalten sich immer mehr von Beziehung und Liebe ab. Wir können heute leichter als je zuvor Sex mit uns allein, unverbindlichen, virtuellen oder käuflichen Partnern erleben. Sex in Beziehungen ist nur noch eine Option von vielen. Zudem sehe ich neue Probleme: alte sexuelle Funktionsstörungen im neuen Gewand, die Schere zwischen einer immer größer werdenden Zahl „Unberührter“ und Promisker geht weiter auseinander. Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus und BDSM sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Pornos durchdringen unsere Gesellschaft und High-Tech-Sex-Toys katapultieren uns in ungeahnte Sphären der Lust.   

Welche Auswirkungen hat im Spezifischen das Internet auf unser Sexleben? 

Das Internet ist heute Dreh- und Angelpunkt für Lust. Pornos zielen auf unser zentrales Sexorgan im Kopf. Sex lässt sich heute aus der heimischen Komfortzone anbahnen. Wir können unseren Partner heute mit dem Smartphone betrügen, während er neben uns im Bett sitzt.  

Welche Veränderungen sind problematisch zu betrachten?

Sexuelle Superreize machen uns unsensibel für die natürlichen Reize des Partners. Sex entkoppelt sich immer mehr aus der Liebe. Ich sehe das Thema Sex- und Pornosucht sehr prominent in meiner Praxis. Das ist eine Erkrankung, die wünschen sie nicht ihrem ärgsten Feind. 

Braucht man heutzutage noch einen Partner für Sex?

Kennen sie den Witz: Meine Frau will Sex auf der Rückbank des Autos und sie will, dass ich dabei fahre? Frauen bringt man heute einfach zum Orgasmus, wenn man auf die Kinder aufpasst und für viele Männer fängt die Lust an, wenn die Frauen zu Bett gehen oder zum Zumba-Kurs das Haus verlassen. Liebe und Erotik haben seit jeher ein angespanntes Verhältnis. Erotik braucht Abstand, Liebe Nähe. Heute sind die Reize dermaßen stärker geworden, dass ein Partner, und schon gar ein verbindlicher Partner mit den dem Sog der Möglichkeiten kaum mehr mithalten kann. 

Sex Toys haben vor allem für Frauen großartige Vorteile: Welche sind das?   

Viele Frauen erreichen durch den penetrativen Sex keinen Orgasmus. Zur Erregung ist sehr wichtig, dass die Klitoris ausreichend erregt wird. Dabei ist der klitorale Orgasmus dem vaginalen in keiner Weise unterlegen, auch wenn Frauen diese verrückte Fantasie im Kopf haben. Frauen emanzipieren sich heute und gehen selbstbewusster mit ihrem Orgasmus um. Während in der Vergangenheit der Orgasmus des Mannes noch sehr im Vordergrund stand, so wächst die Anzahl an Frauen, die ihren eigenen Orgasmus und ihr ganz persönliches Vergnügen mehr und mehr in den Vordergrund stellen. Das können Frauen in der Menopause schon immer sehr gut. Heute ziehen auch jüngere Frauen nach. Und was gibt es Schöneres für einen Mann, als eine lustvolle Frau, die weiß was ihr gefällt und die dies auch kommunizieren kann?  

Können Sex Toys Frauen zu mehr körperlichen und sexuellen Selbstbewusstsein verhelfen?  

Dazu muss man eine gewisse Ich-Stärke haben, denn ein Sex Toy in das Liebesspiel mit einzubauen ist bei manchen Männern nicht ganz einfach. Etwa ein Drittel aller Frauen erleben nur selten oder nie einen Orgasmus. Frauen, die mit so einem Toy experimentieren und wissen, wie ihr Orgasmus funktioniert, können durchaus mehr persönliches aber auch partnerschaftlich sexuelles Selbstbewusstsein daraus erzielen. 

Für wie gesund halten Sie Selbstbefriedigung in einer Beziehung bzw. Partnerschaft? 

Selbstbefriedigung läuft immer ein Stück weit mit. Als Ausgleich für unterschiedliche Libido oder wenn der Partner abwesend oder krank ist. Zudem ist Selbstbefriedigung eine andere Sexualität als die Partnerschaftliche. Ich denke einen gesunden und guten Kontakt zu dem Körper zu entwickeln, auch durch Selbstbefriedigung, ist eine Sache, der man positiv gegenüberstehen sollte. Sie ist aber keine Allzweckwaffe. Wenn die Reize zu stark sind und wir uns zu sehr dran gewöhnen, dann sind wir irgendwann nicht mehr rezeptiv für partnerschaftliche Reize. Alles eine Frage der Dosis. 

Wie hat sich der Begriff „Treue“ gewandelt – insbesondere in Hinblick auf Dating-Apps? Genügt es, sein Profil in einer neuen Beziehung auf stumm zu schalten – oder behält man sich dann in einer Partnerschaft „Chancen offen“?  

Naja – da fängt schon der Streit an: ein Profil zu löschen und es auf „stumm“ zu schalten ist ein Unterschied. Treue ist heute zunehmend eine Frage der Perspektive. Sich selbst treu zu sein ist mehr im Trend als dem Partner treu zu sein. Da braucht man nur in die ganzen Dating-Apps und Portale hinein zu schauen. Es gibt unzählige Menschen in festen Partnerschaften, die auf der Suche nach einem Abenteuer sind von denen der Partner nichts weiß. Von daher lohnt es sich sehr intensiv über das Thema Treue zu diskutieren. Liebe braucht feste Grenzen. Die Paare müssen definieren wo die Grenzen liegen. Heute kann ich mit anderen Sex haben und trotzdem treu sein. Alles eine Frage der Definition. 

Wirkt sich ein verändertes Sexualverhalten auch auf das Verständnis von Liebe aus? 

Liebe wird es immer geben. Sie ringt zurzeit jedoch um ihre einstigen Kerngebiete, denn Fortpflanzung und die Triebe verabschieden sich sukzessive aus dem Schoss der Liebe. So wie es aktuell eine Bewegung hin zu einem hedonistischen Lebensstil gibt, so wird es auch eine Gegenbewegung geben zu mehr traditionelleren partnerschaftlichen Lebensweisen. Hin zu mehr Abgrenzung in einem Zeitalter, wo das „Ja“ nur eine Bedeutung bekommt, wo es auch ein „Nein“ gibt. Selbstkontrolle wird ein zentraler Faktor werden, der in der Beziehung positiv konnotiert wird. Schon mal was von Sex-Fasten gehört? Auch diese neuen Tendenzen werden zunehmen, damit man empfindsam für die Reize eines geliebten und fortwährend gleichen Partners bleibt. 

Was ist in Ihren Augen eine erstrebenswerte, normale Sexualität? 

Ich mag die WHO Definition aus dem Jahr 2006: „Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. 

Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich nur erlangen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden.“ 

In anderen Interviews sprachen Sie von dem „Sex Gourmet“. Was genau bedeutet das? 

Menschen die Sexualität als Genussmittel verstehen. Sie gehen hin zu schönen Reizen im Gegensatz zu den „Sexaholics“, die den Ausschalter nicht mehr finden und Sex konsumieren um schlechte Gefühle zu vertreiben und in repetitiven Suchtschleifen stecken bleiben. Alles eine Frage der Dosis und des Zeitpunktes. 

Frau Heike Melzer, wir danken Ihnen für das Gespräch!

„Scharfstellung: Die neue sexuelle Revolution“, erschienen bei Klett-Cotta. Preis: 16,95 €

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Autor

Frieda arbeitete für mehr als 10 Jahre als Journalistin. Sie schrieb über Osterrezepte und Stilikonen, über den menschlichen Stoffwechsel und Michelin-besternte Restaurants. Kurzum: Sie schrieb über alles. Bis auf Sex. Und das aus gutem Grund. Lange hielt Frieda sich für durchschnittlich sexuell und überließ das Expert*innenwissen lieber anderen. Bis eine Trennung sie bewog, die Pille nach 14 Jahren abzusetzen. Da war Frieda 28. Und erst zu diesem Zeitpunkt entdeckte sie ihre wunderbare Sexualität neu. Und ihre wahre, echte, hungrige, einzigartige Libido. Seitdem praktiziert sie Sex nicht nur auf eine ganz neue Art und Weise. Sie schreibt und spricht auch darüber. Und war noch nie so erfüllt wie heute!